Gruppen­bezogene Menschen­feindlichkeit

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Warum gibt es Gruppenbezogene Menschen­feindlichkeit?

Vergiftungen von Alltag, Gesellschaft und Demokratie.

Die ökonomischen, sozialen und politischen Konflikte in vielen Gesellschaften sind unübersehbar und haben sich verschärft. Das bedeutet, dass wir in entsicherten Zeiten leben, sodass sich „autoritäre Versuchungen“ (Heitmeyer 2018) in Form von Bewegungen und Parteien entwickelt haben, die sich gegen die offene Gesellschaft und die liberale Demokratie richten.

Damit richten sie sich aber auch gegen den zentralen Verfassungsgrundsatz in Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Die Verfassungsrealität sieht allerdings anders aus: Die Würde des Menschen ist antastbar.

Dies zeigt sich in vielen wissenschaftlichen Untersuchungen und Alltagserfahrungen zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF). Damit sind Abwertungen und Diskriminierungen von Menschen allein aufgrund einer Gruppenzugehörigkeit – und unabhängig von ihrem individuellen Verhalten – gemeint. Es geht um Stereotypisierung und damit um eine Ent-Individualisierung von Menschen, die bis zur Ent-Menschlichung reichen kann. Konkret äußert sich dies in bekannten Parolen wie „Ausländer raus“, „Muslime sind Terroristen“ und vielem mehr.

Das Konzept der GMF (Heitmeyer 2002) umfasst ein breites Spektrum von Gruppen, die von Abwertung und Diskriminierung betroffen sind, wie die folgende Grafik veranschaulicht.

 

Was ist das GMF Syndrom?

Mindmap Syndrom GMF von Heytmeyer

(Heitmeyer 2012, S. 17)

 

Dabei handelt es sich um ein Syndrom. Das heißt, dass diese Abwertungsmuster zusammenhängen und nicht isoliert betrachtet werden können, weil sie einen gemeinsamen Kern haben: die Ideologie der Ungleichwertigkeit. Mittels dieser Ideologie werden Konzepte von Höherwertigkeit und Minderwertigkeit transportiert, die im Sinne der GMF bestimmten Gruppen zugewiesen werden und damit als Legitimationen für Diskriminierung – bis hin zur Gewalt – dienen.

Das Konzept der GMF ist zudem so angelegt, dass es zwar diesen gemeinsamen verbindenden Kern hat, aber gleichzeitig eine Differenzierung dieser Gruppen notwendig ist, weil sich Parolen, Hass, Abwertungsargumente etc. je nach Gruppe unterscheiden.

Beim Antisemitismus sind es z.B. die Verschwörungen über kapitalgesteuerte Welteroberungsstrategien des „Weltjudentums“; bei Langzeitarbeitslosen, Obdachlosen und Behinderten z.B. die Zuschreibung fehlender ökonomischer Nützlichkeit, Verwertbarkeit und Effizienz; bei Flüchtlingen z.B. die strategische Ausbeutung von Sozialsystemen; bei Muslim_innen z.B. die geplante religiöse Beherrschung des Abendlandes oder Sympathien für Terrorist_innen. Die Beispiele ließen sich noch fortführen.

Welche Formen gibt es von der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit?

Wandel und Verbreitung

Das Spektrum des Syndroms der GMF (Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit) ist nicht starr, sondern verändert sich im Laufe der gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen; d.h., je nachdem, welche Gruppen in den öffentlichen Debatten auf die politische Tagesordnung geraten, vor allem durch das Zusammenspiel von „Markierungseliten“, also Personen, die aufgrund ihrer Reputation über eine wirkungsvolle mediale Deutungsmacht verfügen, aus Politik, Medien sowie Wissenschaft und Mentalitäten in Teilen der Bevölkerung.

Die Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit mit dessen Erscheinungsformen und Ausbreitungen sind nicht bloß Probleme individueller Einstellungen jener, die solche menschenfeindlichen Abwertungen vertreten, sondern ein Problem für die offene Gesellschaft und die liberale Demokratie insgesamt.

Die Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit hat verschiedenen Ausdrucksformen, welche sich den Langzeituntersuchungen repräsentativer Bevölkerungsbefragungen zufolge in unterschiedlicher Ausbreitung in allen sozialen Schichten der Bevölkerung finden, wie u.a. die zehn Bände „Deutsche Zustände“ (Heitmeyer 2002–2012) zeigen.

Ein wichtiges Ergebnis dieser jährlichen Langzeituntersuchung ist die Beobachtung, dass die Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in unterschiedlichen Entwicklungslinien gegenüber verschiedenen Gruppen existiert. Diese Zu- bzw. Abnahmen von Abwertungen zeigen, dass sie im Zusammenhang mit gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen stehen. Das heißt also auch: Sie sind beeinflussbar.

Welche Funktion hat die Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit?

Abwertung und Ausgrenzung

Vor allem gilt es, die Funktion dieser GMF (Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit) deutlich zu machen. Es geht um Macht, etwa mithilfe von Ausgrenzungsstrategien gegenüber den markierten Gruppen, und um die Dominanz von Etabliertenvorrechten. Ein Mechanismus ist in diesem Zusammenhang besonders zu betonen: Die Abwertung solcher Gruppen erfolgt zwecks Aufwertung der jeweils eigenen Gruppe. Dies erfolgt besonders dann, wenn der eigene soziale Status, die eigene Kultur oder Lebensweise als bedroht wahrgenommen werden – oder wenn Status, Kultur und Lebensweise anderer Gruppen durch „Markierungseliten“ als Bedrohung und Kontrollverlust für die eigenen individuellen Biografien oder gar das „deutsche Volk“ dargestellt werden. Dies propagiert z.B. der neue Autoritäre Nationalradikalismus (Heitmeyer 2018), indem er autoritäre Versuchungen mit dem Ziel stimuliert, die Institutionen der offenen Gesellschaft und der liberalen Demokratie zu destabilisieren, um stattdessen eine geschlossene, homogene Gesellschaft („Wir holen uns unser Land zurück“) und ein autoritäres Demokratiemodell („Aufräumen im Miststall der Demokratie“) herbeizuführen.

Was kann man gegen Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit tun?

Ausweitung des Sagbaren

Ein Element auf diesem Wege ist die Instrumentalisierung von Elementen des Syndroms der GMF (Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit), die in Teilen der Bevölkerung existieren, wie u.a. die generalisierte Islamfeindlichkeit, Antisemitismus, Rassismus gegenüber Farbigen* etc.

Da solche menschenfeindlichen Einstellungen nicht „einfach so“ plötzlich als Naturereignis „vom Himmel“ gefallen, sondern bereits seit Langem latent vorhanden sind – was die Langzeituntersuchung seit 2002 nachweisen kann –, bestehen zwei große Probleme, gegen die anzugehen ist: erstens das Problem der Normalitätsverschiebung („Ausweitung des Sagbaren“) durch die Machtinteressen autoritär-nationalradikaler politischer Gruppen bzw. Parteien; zweitens die Normalisierungsprozesse in der Bevölkerung, also im Alltag von Familie, von Freundesgruppen, im Sportverein, am Arbeitsplatz, in der Kirchengemeinde etc. Solche Prozesse sind deshalb gefährlich, weil alles, was als normal gilt, ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr problematisiert werden kann, also keiner kritischen und Grenzen setzenden Argumentation mehr zugänglich ist. Hier können hohe soziale Kosten für diejenigen entstehen, die gegen die Normalisierungsprozesse in ihrem nahen sozialen Umfeld einschreiten wollen, eben weil sie ihre Freund_innen, Verwandte etc. nicht verlieren wollen.

Dazu bedarf es eines intensiven Trainings und ständiger Übung. Dies gilt zumal dann, wenn die Emotionalisierung von sozialen und politischen Themen vorangetrieben wird und in abgedichteten asozialen Netzwerken stattfindet, in denen sich homogene Gruppen treffen, die keine Diskussion führen, sondern in selbstbestätigenden Aufschaukelungsprozessen unterwegs sind. Hinzu kommt, dass man mit Statistiken und Zahlen gegen Emotionen meist nicht ankommt. Hier lagern Bedrohungen für die offene Gesellschaft und die liberale Demokratie, zu denen die Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Teilen der Bevölkerung und die Funktionalisierung durch „Markierungseliten“ massiv beitragen.

Einschreiten und Grenzen setzen

Aus diesen Gründen ist immer wieder zu betonen, dass zwei basale Grundwerte in dieser pluralistischen Gesellschaft nicht verhandelbar sind: die Gleichwertigkeit aller Menschen, die in dieser Gesellschaft leben, und ihre psychische und physische Unversehrtheit. Dies sind genau diejenigen Grenzlinien, an denen auch im Alltag interveniert werden muss – eingebettet in die historischen Erfahrungen, sodass keine „Erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“, wie sie von einem prominenten Vertreter des aktuellen Autoritären Nationalradikalismus gefordert wird, zugelassen werden kann. Für diese notwendigen Grenzziehungen ist höchst relevant, was im Alltag passiert. Deshalb ist das Konzept der „Schweigespirale“ so wichtig. Demnach vertreten Personen mit gruppenbezogen menschenfeindlichen Einstellungen ebendiese eher zurückhaltend, wenn sie sich in der Minderheit fühlen – also am liebsten nur im privaten Rahmen, quasi hinter den heimischen Gardinen. Haben sie aber das Gefühl, sie seien Teil einer Mehrheit in der Bevölkerung, dann treten sie vehement in sozialen Gruppen und in der Öffentlichkeit auf und erzeugen so die Voraussetzungen für eine politische Bündelung dieser Einstellungen durch Bewegungen und Parteien.

Individuelles mutiges Einschreiten im Alltag – spätestens an den genannten Grenzlinien – ist somit entscheidend, denn es steht viel auf dem Spiel. Und nicht zu vergessen: Man kann dann selbstbewusst morgens in den Spiegel schauen.

Wilhelm Heitmeyer 

Literatur

Heitmeyer, Wilhelm: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Die theoretische Konzeption und erste empirische Ergebnisse, in: ders. (Hrsg.): Deutsche Zustände, Frankfurt am Main 2002, S. 15–36.

Heitmeyer, Wilhelm: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in einem entsicherten Jahrzehnt, in: ders. (Hrsg.): Deutsche Zustände, Berlin 2012, S. 15–41.

Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.): Deutsche Zustände, 10 Bde., Frankfurt am Main/Berlin 2002–12.

Heitmeyer, Wilhelm: Autoritäre Versuchungen. Signaturen der Bedrohung, Berlin 2018.

* Anmerkung der Redaktion: Der früher (auch in wissenschaftlichen Publikationen) häufig verwendete Begriff „Farbige“ hat seinen Ursprung in der Kolonialzeit und ist negativ konnotiert, da weiße Menschen als Norm gesetzt werden. Die Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung bevorzugt deshalb die Selbstbezeichnungen Schwarze Menschen und/oder People of Color (PoC, Singular: Person of Color).

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